Netzwerk Straffälligenhilfe Baden-Württemberg

Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg GbR

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Fachtagung an der Ev. Akademie Bad Boll „Tatort Psyche“

11. Jul. 2022
„Wenn ich ein Beispiel für gelungene Zusammenarbeit suche, fällt mir als erstes das Netzwerk Straffälligenhilfe ein.“ So Ursel Wolfgramm in Ihrem Grußwort anlässlich der Tagung der Verbände der Straffälligenhilfe in Baden und Württemberg. Die Vorsitzende des PARITÄTischen Wohlfahrtsverbands Baden-Württemberg, Ursel Wolfgramm begrüßte die Teilnehmer:innen aus der Straffälligen- und Bewährungshilfe, dem Justizvollzug, Vertreter:innen der Arbeitsagenturen und Jobcenter sowie Sozialämter und Kommunen zur Fachtagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Ihr besonderer Gruß galt den Vertreterinnen und Vertretern des Ministeriums für Justiz und Migration, hier im Besonderen Frau Dr. Sterz und Herrn Dr. Ernst.

15 Jahre Netzwerk Straffälligenhilfe, 46 Mitgliedsorganisationen der freien Straffälligenhilfe, mehr als 550 Wohnplätze, flächendeckende Projekte für ganz Baden-Württemberg, die Menschen nach einer Haftentlassung wieder eine Perspektive ermöglichen, mehr als 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Bereichen Sozialarbeit, Verwaltung, Psychologie und mehrere hunderte engagierte Ehrenamtliche kümmern sich um mehr als 16.000 Kontakte zu Menschen, die von Straffälligkeit und Inhaftierung bedroht oder betroffen sind. 

Die mentale Gesundheitslage von straffällig gewordenen Menschen ist nicht nur während der Haft, sondern auch nach der Haftentlassung ein wichtiger Faktor für eine gelingende Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Menschen, die von einer seelischen Erkrankung betroffen sind, erfahren Veränderungen im Denken, im Fühlen oder im Wollen - Veränderungen, die teilweise massive soziale Einschränkungen zur Folge haben.

Studien zeigen, dass Gefangene und Haftentlassene häufiger unter psychischen Erkrankungen leiden, als Personen ohne Hafterfahrung. Ziel der Tagung war es,  einen Beitrag dazu zu leisten, Herausforderungen, Hürden, Strukturen und Anstrengungsleistungen, die erbracht werden müssen zu identifizieren und so das Bewusstsein für Menschen mit psychischen Herausforderungen im Strafjustizsystem zu schärfen und Strukturen zu finden, die zur sozialen Integration von Gefangenen nach der Entlassung beitragen.

 
Unter dem Titel: „Tatort Psyche, der Auftakt kommt unerwartet“ las Thriller-Autor Arno Strobel Passagen aus seinem Buch „Mörderfinder“, gab den Teilnehmer:innen einen Einblick in die innere Erlebniswelt eines psychisch erkrankten Straftäters und beschrieb eindrücklich, wie er es als Autor schafft, sich in die Psyche seiner Protagonisten hineinzuversetzen.

Im weiteren Verlauf der Fachtagung kamen Experten aus Wissenschaft, Forschung und der Praxis zu Wort.

 
Dr. Dirk Bruder, Leitender Medizinaldirektor in der Sozialtherapie Offenburg, referierte zum Thema „Diagnostik, Behandlung und Resozialisierung von Straftätern in Baden-Württemberg aus psychiatrischer Sicht“. Er zeigte das Verfahren der Diagnostik von psychisch erkrankten Straftätern im Strafvollzug und verwies darauf, dass es immer mehr psychisch auffällige Gefangene gibt, die zudem weitere Erkrankungen wie Anpassungsstörungen, ADHS oder Suchtmittelmissbrauch aufweisen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Gefangene mit Migrationshintergrund nicht an einer Therapie teilnehmen können, da sprachliche Barrieren eine Therapie unmöglich machen.
 
 
Prof. Dr. Nicolas Rüsch, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm und Bezirkskrankenhaus Günzburg, ging in seinem Fachvortrag „Stigma psychischer Erkrankungen“ auf die Menschen mit psychischen Erkrankungen, deren Stigmata und Diskriminierung sowie die strukturellen Probleme im Versorgungssystem ein. Rüsch zeigte sehr deutlich auf, welche Folgen die Etikettierung von psychisch kranken Menschen haben. Sei es der Verlust von sozialen Bindungen und der Abbau des Selbstwerts. Erschwerend kommt hinzu, dass psychisch erkrankte Haftentlassene neben der Stigmatisierung aufgrund ihrer Erkrankung weitere Etikettierung durch begangene Straftaten erfahren. Um das zu umgehen, müssen wir uns alle gemeinsam mit vielen weiteren Akteuren für eine Gesellschaft stark machen, die offen und tolerant mit psychischen Erkrankungen und straffälligen Personen umgeht.

Solange die Stigmatisierung nicht auf gesamtgesellschaftlicher Ebene angegangen wird, ist es unwahrscheinlich, dass sich die Aussichten auf eine Veränderung im Leben von psychisch erkrankten Haftentlassenen verbessern.

 
Heike Borchert und Judith Engel vom Projekt „Aufwind“ des Caritasverbands Stuttgart gaben den Teilnehmer:innen einen Einblick wie Kindern geholfen werden kann, die in Familien mit einem psychisch auffälligen Elternteil leben. Fühlbar wurde deutlich, wie die Situation erlebt wird, welche Schuldgefühle sie häufig haben und in welche Loyalitätskonflikte diese Kinder kommen.  Das Risiko für betroffene Kinder, selbst psychisch krank zu werden, ist deutlich erhöht, und daher ist es wichtig niederschwelligen Zugang zu den Familien zu erhalten, um den Kindern einen konstruktiven Umgang mit der Erkrankung aufzuzeigen.


Von rechts nach links:
Sven Reutner (Referent für Sozialpsychiatrie und Behindertenhilfe beim Paritätischen Landesverband in Stuttgart),
Helge Olesch (Vollzugsabteilungsleiter und Mitarbeiter des Sozialdienstes im JVKH Hohenasperg),
Yvonne Morick (Mitarbeiterin der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg),
Dr. Klaus Obert (langjähriger Leiter des Bereichs Sucht – und Sozialpsychiatrische Hilfen im Caritasverband Stuttgart),
Johannes Weißer (Mitarbeiter bei Fortis e.V. Böblingen),
Sascha Oechsle (Mitglied der Steuerungsgruppe des Netzwerks Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg)

 
In der anschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Fachleute unter dem Titel: „Psychische Erkrankungen als Herausforderungen – Einblicke in und Perspektiven für die Praxis“.

Die zentralen Forderungen und Inhalte der Diskussion waren, den Menschen und nicht die Diagnose im Mittelpunkt zu behalten und die Kooperation zum Sozialpsychiatrischen Dienst zu verbessern.  Klient:innen wechseln aus einem durchgeplanten Vollzug heraus in Freiheit, wo sie unter Umständen alles „neu“ entscheiden können und sich ihrer Erkrankung unter neuen Rahmenbedingungen erneut stellen müssen.
 

 
Am zweiten Tag referierte unter dem Titel „Komisch, auffällig anders - psychische Auffälligkeiten einordnen, ansprechen und Maßnahmen einleiten“ Frau Dr. Madeleine Bieg von der Forensische Ambulanz, Zentrum für Psychiatrie, Reichenau. Frau Bieg zeigte den Zuhörern auf, wie praxisnah psychische Erkrankung erkannt oder differenziert werden können. Sie gab einen Überblick über die verschiedenen Störungen die den Mitarbeitenden vor Ort  in der täglichen Arbeit begegnen können. Aber auch wie Klienten im professionellen Kontext angesprochen werden können, wenn Mitarbeitenden Veränderungen im Verhalten auffallen.


Abschließend gab Prof. Dr. Norbert Konrad, Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Charité in Berlin in seinem Vortrag „Psychische Erkrankungen im Justizvollzug“ sowohl Einblicke in seine praktische Arbeit im Strafvollzug, als auch einen Überblick über wissenschaftliche Längsschnittstudien im Bereich Straffälligkeit und psychische Erkrankung. Er legte die Vorgehensweise der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie für männliche Strafgefangene im Justizvollzugskrankenhaus Plötzensee dar. Neben der Diagnostik und leitliniengerechten Behandlung aller psychiatrischen Störungen werden dort zudem Abhängigkeitserkrankungen behandelt. Die psychiatrische Klinik verfügt über alle diagnostischen Möglichkeiten und ein breites Spektrum an störungsspezifischen Behandlungsangeboten.

 
Zusammenfassend hat die Fachtagung in Bad Boll noch einmal aufgezeigt, wie wichtig es ist, die Kooperation zwischen „drinnen“ und „draußen“ verbindlich zu gestalten. Menschen mit psychischen Erkrankungen erfahren immer noch gesellschaftliche Stigmatisierung. Sie sind damit konfrontiert, dass andere sich von ihnen distanzieren.

Vorurteile über psychische Erkrankungen übertragen sich auf die Betroffenen, die es folglich umso schwerer haben, offen mit ihrer Erkrankung und ihren Straftaten umzugehen und rechtzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Psychisch erkrankte Menschen im Kontext Straffälligkeit ganzheitlich zu betrachten, ist das, was die Soziale Arbeit auszeichnet.

Daher ist es wichtig, verbindliche Kooperationen zwischen den Vollzugsanstalten und den Akteuren „draußen“ unter Einbeziehung der Betroffenen selbst zu schaffen, damit der Resozialisierungsprozess zur sozialen Integration von Gefangenen nach der Entlassung - bzw. im Optimalfall bereits während der Inhaftierung - gelingen kann.

von links nach rechts:
Sebastian Kopp (Geschäftsführendes Vorstandsmitglied beim Badischen Landesverband für soziale Rechtspflege)
Sabine Oswald (Leitung Bereich Krisenintervention und Existenzsicherung beim PARITÄTischen Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg)
Sascha Oechsle (Geschäftsführer beim Verband Bewährungs-und Straffälligenhilfe Württemberg e.V.)



Bericht: Steuerungsgruppe des Netzwerks Straffälligenhilfe

Weiterführende Dokumente zur Tagung finden Sie am Ende des Beitrags.